Marcus Weber im Interview mit DIE WELT

„Erfolgserlebnisse sind der Wachstumsfaktor bei Kindern – Sport bietet das“

DIE WELT – DONNERSTAG, 22. OKTOBER 2020, VON MELANIE HAACK
Foto: GES/ LAUREUS/ HELGE PRANG

Bewegung bewegt. Nicht nur den Körper. Sie verändert einerseits sehr viel auf der physischen Seite, bewirkt daneben aber auch Wichtiges auf der sozialen und psychischen Ebene. Auch und erst recht bei Kindern. Einer, der sich mit diesem Themenkomplex auskennt, ist Marcus Weber (44). Der Sozialpädagoge leitet das Projekt move&do mit Laura Hübsch, Sportwissenschaftlerin und Trainerin (Träger sind der Sportkreis Stuttgart und die Jugendhaus-Gesellschaft Stuttgart, gefördert von der Laureus-Stiftung). Sie begleiten Schulen in Stuttgart mit erlebnispädagogischen Angeboten, arbeiten somit an der Schnittstelle von Sport und Jugendhilfe.

WELT: Was bewegt Bewegung bei Kindern, alleine und in der Gruppe? Können Sie das Wichtigste herausgreifen?

WEBER: Es stärkt ihr Körpergefühl, damit auch ihr Selbstbewusstsein, fördert Sozialkompetenz, also unter anderem Team- und Kommunikationsfähigkeit. Es geht um Vertrauen, Regeln, Respekt, Toleranz und Anerkennung. Um Lösungen, Wege aus Krisen. Und viel mehr.

Inwieweit haben Sie in Ihrer Arbeit den Eindruck, dass die Macht von Bewegung für Heranwachsende auch entsprechend gewürdigt wird?

Wenn man sich die Bildungspläne ansieht und das, was in Schulen als Erstes gestrichen wird, muss ich feststellen: Bewegung als positive Eigenschaft, die Macht von Bewegung, wird unterschätzt. Und da rede ich jetzt nicht vom Extremfall, sondern ganz allgemein. Wenn jemand über Jahre Schlimmes erlebt hat, hat er natürlich einen schwierigen, langen Weg vor sich liegen, steckt in bestimmten Beklemmungen. Aber ich erlebe es auch im – sagen wir – „ganz normalen“ Alltag, dass Kinder Blockaden haben, dass sie Lernschwierigkeiten haben, und wir dann feststellen, dass es nicht immer nur an Lernschwierigkeiten als solchen liegt, sondern dass es wichtig ist, wieder in Bewegung zu kommen, sich zu aktivieren. Das wird gerne und oft unterschätzt.

Gibt es auch Positivbeispiele?

Ja, auf jeden Fall. Schulen, die sehr bewusste Mittel wählen. Die zum Beispiel Bewegungspausen einlegen und feststellen, dass die Kinder und Jugendlichen dadurch ganz andere schulische Erfolge erzielen. Aber als Konsens ist das Thema immer noch nicht in der Gesellschaft, in der Politik angekommen.

Das legt den Schluss nahe, dass die Corona-Krise nicht nur bildungstechnisch aufgrund der Schulschließungen, sondern auch durch den Wegfall schulischer und außerschulischer Bewegungs- und Sportangebote gravierende Folgen hat und noch haben wird. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Wir haben mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen, ganz klar. Auf vielen Ebenen. Aber natürlich ist es in Familien mit schwierigen Lebenssituationen –und die gibt es auch unabhängig vom Einkommen der Eltern – noch schwieriger geworden. Dort fehlte den Kindern die Bewegung oft extrem, schließlich ist Sport auch ein Kanal, um mit Schwierigkeiten umzugehen. Hinzu kommt: Wenn das positive Erlebnis des Sporttreibens durch die Corona-Zeit auch noch wegfällt, bleibt manchmal zu wenig. Dann wird es in schwierigen Situationen noch schwieriger.

Und generell?

Abgesehen von motorischen und vielen anderen positiven Aspekten der Bewegung gilt für die meisten Kinder in der Corona-Zeit: Sie wurden positiver Erlebnisse beraubt. Sport bietet Erfolgserlebnisse – und diese sind der Wachstumsfaktor bei Kindern. Zudem haben sich viele Kinder vermehrt online aufgehalten. Noch mehr als sowieso schon. Sport als Ausgleich zum Sitzen, zur Bildschirmarbeit und zum Computerspielen brach weg. Weniger Bewegung, mehr Bildschirmzeit und sehr wahrscheinlich dazu nicht weniger, sondern eventuell sogar mehr Essen – das bringt Gewichtszunahme, fehlenden Ausgleich im körperlichen und geistigen Sinne mit sich. Und viele andere Folgen.

Vereine und einzelne Topsportler haben mit Onlineangeboten versucht zu helfen. Nur ein kleiner Tropfen?

Es gab wirklich viele gute Angebote, auch wir haben etwas auf die Beine gestellt – das war wichtig und hat sicherlich geholfen, aber es fällt ja schon einer großen Anzahl der Erwachsenen schwer, sich zu disziplinieren und etwas für sich selbst zu tun. Hinzu kommt ja auch, dass Kinder lieber Sport in der Gemeinschaft treiben. Glück hatte, wer Platz hat, sich ein Trampolin in den Garten zu stellen und vielleicht sogar die Nachbarskinder dazuholen konnte. Aber das ist Luxus.

Wie ist der aktuelle Stand?

Die Nachfrage ist seit Ende der Sommerferien groß. Unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln, versteht sich, sind wir täglich im Einsatz und ausgebucht. Viele haben erkannt, wie wichtig Bewegung ist, und dass nicht wenigen Kindern das Verständnis für ein Miteinander abhandengekommen ist. Dass man gegensteuern muss. Deshalb kam von vielen Lehrern die Initiative, dem entgegenzuwirken und auch vorzubeugen. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Wenn Kinder keinen Kontakt nach außen haben, kein Lehrer, kein Fußballtrainer, kein Musiklehrer da ist – wer erkennt dann die Schwierigkeiten, wer erkennt, dass etwas nicht stimmt? Ein Video-Chat kann das nur schwer ersetzen. Ich hoffe sehr, dass die Schulen geöffnet bleiben.

Gehen wir weg von der Pandemie. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihren Projekten mit der Relevanz von Vorbildern gemacht: Wie wichtig sind diese, speziell aus dem Spitzensport?

Vorbilder sind generell wichtig. Kinder werden groß mit Orientierung, und sie orientieren sich immer an Vorbildern. Normalerweise primär an den Eltern, aber wir stellen fest, dass das Elternhaus als Vorbild immer mehr wegbricht und unsere Arbeit deshalb umso wichtiger wird. Nach den Eltern orientieren sich Kinder am Lehrpersonal – und dann extrem am Sport. Die Schule, die Bewegung, die Normalität haben den Kindern gefehlt.

Worauf begründet sich die Vorbildfunktion im Sportbereich?

Im Sport verstehen Kinder auf ganz simple Weise, dass es zum Beispiel ohne Regeln nicht funktioniert. Dass ein Zusammenspiel sonst nicht möglich ist oder erschwert wird. Um den Bogen zum Leistungssport zu spannen: Wir haben hin und wieder Manuel Fumic bei unseren Projekten (Weltklasse-Mountainbikefahrer, die Redaktion). Durch ihn kann man sehr gut Themen wie Durchhaltevermögen, Rückschläge erleiden, sich dennoch wieder nach vorne kämpfen, sich Ziele setzen und fokussieren vermitteln. Wenn jemand seit 15 Jahren Sport treibt und Erfolge vorweisen kann, schauen viele Kinder und Jugendliche zu ihm auf, sodass dessen Wort eine ganz andere Tiefe und Bedeutung bekommt, als wenn ich das Gleiche sagen würde. Außerdem merken die Kinder:‚Hey, dieser erfolgreiche Sportler interessiert sich für uns. Der nimmt sich Zeit, der hört uns zu.‘ Sie fragen ungläubig: ‚Wie? Der kommt jetzt extra zu uns?‘ Das baut sie auf, das stärkt ihr Selbstbewusstsein. Diese Topsportler haben einen vollen Terminkalender und nehmen sich dennoch Zeit – Fredi Bobic zum Beispiel ist so einer, ihn habe ich zwei-, dreimal im Rahmen von „Laureus“ getroffen. Das hat eine große Symbolkraft. Den Einsatz von Spitzensportlern darf man nicht unterschätzen. Jugendliche erkennen das an.